Es gibt da eine interessante Studie, die sich mir dieser Frage beschäftigt: Die Proof-of-Concept-Studie von Warneke et al.

Es kursiert leider ein populäres Narrativ, dass es in etwa so ausdrückt: „Dehnen bestenfalls nutzlos.“ Intensives Dehnen unmittelbar vor dem Training kann das Muskelwachstum reduzieren, so das Ergebnis einer Studie. Leichtes Dehnen zwischen den Sätzen erhöht dagegen das Muskelwachstum, ist wiederum in einer anderen Studie zu lesen.

Intensives, lang anhaltendes Dehnen unmittelbar vor dem Belastungstest kann die Kraft- und Leistungsabgabe reduzieren, longitudinale Dehnungsinterventionen erhöhen dagegen die Kraft mit der Zeit, liest man in einer weiteren Studie. Was stimmt denn nun?

Um es kurz zu sagen: Ob Stretching hilfreich ist oder eher behindert, hängt vom Zeitpunkt, Intensität und Dauer der Übungen ab.

In der Tat ist zu beobachten, dass Training, das den vollen Bewegungsumfang einsetzt, die Muskeln mehr wachsen lässt als Trainingseinheiten, die sich auf die oberen Bereiche des Körpers fokussieren. Zum Beispiel erzeugen tiefe Kniebeugen mehr Quad-Wachstum als ihre verkürzten Varianten.

Die Unterschiede liegen auf der Hand:

1) Der Gesamtbewegungsumfang

2) Das Training der „langen Muskelstränge“

Neuere Forschungen haben ergeben, dass das Training der langen Muskelstränge offenbar eine wichtige Rolle spielt, die bislang unterschätzt wurde. Partielles Training bei langen Muskellängen, das könnte zum Beispiel nur die untere Hälfte der Kniebeuge sein, verursacht eben so viel Muskelwachstum wie ein Training, das den vollen Bewegungsumfang bedient. Auf jeden Fall ergibt sich deutlich mehr Muskelwachstum als ein partielles Training bei kurzen Muskellängen.

Diese Erkenntnisse führten zu der Hypothese einer „dehnungsvermittelten Hypertrophie“. Offenbar wird die Hypertrophie über die Muskelspannung in gestreckter Lage mehr gefördert als in einer verkürzten Position.

Dass Stretching die Muskeln stark belastet und zu DOMS (Delayed Onset Muscle Soreness = verzögert einsetzender Muskelkater) führen kann, wie wir es beim Krafttraining kennen, ist schon lange bekannt. Insofern ist es nur folgerichtig, dass intensives Dehnen durchaus zu Muskelhypertrophie führen kann.

Die Hypothese der stretch-vermittelten Hypertrophie könnte ein Erklärungsansatz dafür sein, dass Isometrien bei langen Muskellängen mehr Muskelwachstum bewirken als bei kurzen. Die Ergebnisse von Tierversuchen mit Vögeln, Nagetieren und Katzen unterstützen diese Sichtweise. Neben der Hypertrophie konnte hier auch Faserhyperplasie festgestellt werden.

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Im Folgenden wollen wir noch etwas näher eingehen auf die hier diskutierte Proof-of-Concept-Studie. Die 52 seit längerer Zeit sportlich aktiven Teilnehmer wurden in zwei Gruppen eingeteilt:

  • Stretching-Gruppe (SG)
  • Nicht-Stretching-Kontrollgruppe (NSK)

Innerhalb der SG wurde jeweils nur ein Bein (rechts oder links nach dem Zufallsprinzip ausgewählt) dem Dehnungseingriff unterzogen, dadurch konnte die andere Seite direkt als Kontrollbein dienen.

Die Dehnungsübungen waren sehr intensiv. Verwendet wurde dazu ein orthopädisches Gerät, mit dem der Fuß fixiert wurde, während der Knöchel in die Dorsalflexion gezogen wurde. Die Teilnehmer wurden angewiesen, den Dehnungsmechanismus so weit wirken zu lassen, bis es richtig unangenehm wurde.

So saßen sie aufrecht auf einem Stuhl, ihr Bein auf einem anderen Stuhl stützend, und streckten ihre Wade eine ganze Stunde lang in etwa horizontal. Diese Art der Dehnungsintervention wurde so sechs Wochen lang täglich durchgezogen.

Wie erwartet erweiterte sich dadurch der Bewegungsumfang, was bedeutete, dass die Probanden ihren Knöchel mittels Orthesengerät noch stärker in die Dorsalflexion ziehen mussten, da sie ja ein gewisses Maß an „Quälerei“ zu ertragen hatten. Zur Bewertung standen:

  • Die Dicke des Gastrocnemius (großer oberflächlicher Muskel am Unterschenkel)
  • Die Änderung des Dorsalflexionsbewegungsbereichs
  • Die Veränderungen in der dynamischen und isometrischen Plantarflexionsfestigkeit

Dabei wurde die Hypertrophie mittels Ultraschall beurteilt. Die Flexibilität wurde über die Messung des maximalen Dorsalflexionswinkels und mittels Knie-zu-Wand-Test gleich an der Orthese ermittelt. Der Kraftzuwachs wurde einseitig durch Beinpresse gemessen. Hierbei führten die Probanden maximale isometrische Kontraktionen in Kombination mit 1RM-Tests durch.

Ergebnisse

Die isometrische Kraft verstärkte sich im gedehnten Bein der SG um 16,8 %. Deren Kontrollbein wurde ebenfalls kräftiger, aber nur um 1,4 %.

Innerhalb der NSK wurde im Durchschnitt sogar eine leichte Abnahme der Kraft um circa 1,5 % festgestellt.

Bei der dynamischen Kraft wurde am Kontrollbein der SG eine bemerkenswerte Kraftzunahme verzeichnet, was mit dem Phänomen der Cross-Education erklärt werden kann. Der Waden-1RM stieg immerhin um 11,4 %, beim Dehnbein lag der Kraftaufwuchs allerdings bei über 25 %.

Die dynamische Kraft bei den NSK-Teilnehmern reduzierte sich dagegen bis zu 3,6 %.

Betrachten wir nun die Flexibilität: Die Knie-zu-Wand-Testleistung des Dehnbeins der SG erhöhte sich um 13,2 %. Das andere SG-Bein sowie die Leistungen der NSK-Teilnehmer reduzierten sich dagegen über einen Range von 0,8 bis 2,4 %.

Der maximale Dorsalflexionswinkel auf dem Orthesengerät erhöhte sich um 27,3 % im SG-Dehnbein und um immerhin 7,5 % im anderen SG-Bein, was wiederum als Hinweis auf Cross-Education gewertet werden kann. In der NSK wurde diesbezüglich nahezu keine Veränderung verzeichnet.

Die Dicke des Gastrocnemius in den SG-Dehnbeinen nahm durchschnittlich um 15,3 % zu, beim anderen SG-Bein lag der Wert nur bei 2,1 %.

Zusammenfassung

Diese betrachtete Studie zeigt, dass statische Dehnung bei ausreichender Intensität sehr wohl zu Hypertrophie führen kann. Die Ergebnisse der Studie sind insgesamt schlüssiger als jene, die zuvor schon auf diesem Feld erzielt worden sind. Die Studie bestätigt zudem, dass longitudinale Dehnungseingriffe die isometrische Kraft unmittelbar erhöhen können.

Wer etwas Geld für so eine knöcheldehnende Orthese übrig hat und sich wenigstens eine Stunde am Tag vor dem Fernseher, Computer oder Videospiel etwas abquälen mag, könnte diese besondere Form der Intervention ohne größeren Zeitverlust selbst ausprobieren, ein gewisser Hang zur Selbstgeißelung vorausgesetzt.

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Dieser Beitrag wurde am 11.02.2023 erstellt.