Beweglichkeit – Fakten – Mythen und Erfahrungen

Beweglichkeit – Fakten – Mythen und Erfahrungen2023-04-24T20:29:47+02:00
  • Stretching der Beinbeuger im sitzen

Über eine völlig unterschätzte Trainingskomponente

Die Beweglichkeit: Eine Komponente, von der die meisten Sportler denken sie hätten genug davon. Wenn es dann an das berühmte „Eingemachte“ geht, wird es sehr schnell sehr dünn…

Und dann höre ich in der Praxis solche Sätze wie: „Mit zunehmendem Alter muss der Mensch Beweglichkeitseinbußen der Wirbelsäule und der Gelenke, insbesondere bei der Schulter und den Hüften, in Kauf nehmen.“ Das Glauben viele Menschen – auch Trainer, Ärzte oder Physiotherapeuten. Und genau das halte ich für eine Katastrophe!

Aber eins nach dem anderen.

Die Bedeutung der Begriffe

Beweglichkeit, Stretching, Dehnen, Mobilisierung. Es gibt viele Begriffe, die für Laien zwar alle eine Bedeutung haben – leider oftmals völlig verschiedene Bedeutungen.

Im Grunde genommen gibt es für mich nur fünf Begriffe der „Leistungsfähigkeit“:

Alle anderen Begriffe sind in diese fünf Begriffe einzugliedern.

Und so streichen wir mal den Begriff „Stretching“ – denn das Ziel des Stretchings ist vorrangig: eine verbesserte Beweglichkeit.

Dehnungen? Ziel: verbesserte Beweglichkeit. (Ich weiß es gibt noch andere Gründe, aber letztlich kommen wir doch wieder zur Beweglichkeit.)

Dabei mangelt es gar nicht an Forschungen, Studien und Untersuchungen. Und an Stretching-Büchern, DVDs etc. erst recht nicht.

In der Forschung dreht sich das Gespräch um die Notwendigkeit von Dehnübungen und Beweglichkeitsübungen. Da wird dann schnell nach dem „Sinn“ gefragt und was das für die sportliche Leistungsfähigkeit bringt.

In der Therapie werden diese Fragen auch gestellt. Einige Therapeuten haben da durchaus die Erfahrung gemacht, dass bestimmte Übungen nicht nur Entspannung mit sich bringen, sondern auch die körperliche Leistung und die allgemeine Gesundheit verbessern.

Bevor wir in das herrschende Chaos einsteigen mit den unterschiedlichen Theoriemodellen, lassen Sie es mich gleich vorweg nehmen: Jedes Gelenk muss frei beweglich sein und zwar so, wie das im Anatomie-Lehrbuch angegeben ist.

Diese Bewegungen müssen spannungsfrei und auch schmerzfrei sein. Dabei darf nichts zwicken oder zwacken usw. Und wenn man das mal bei Sportlern und vor allem auch Schmerzpatienten testet, stellt man erstaunliche Dinge fest!

Hier mal eine Übersicht, was die Wirbelsäule können muss:

  • Vorneigung / Rückneigung
  • Seitneigung
  • Rotation

wirbelsaule beweglichkeit vorneigung rueckneigung

wirbelsaule beweglichkeit seitneigung

wirbelsaule beweglichkeit rotation

Physiologie und Praxis

Mit dem Beweglichkeitstraining wird im Körper ein relativ komplexer und physiologischer Vorgang des Nerven-Muskelsystems in Gang gesetzt. Trotzdem sind die verschiedenen praxisorientierten Versuche in diesem Bereich noch nicht genügend erforscht und empirisch untersucht und belegt – so lautet jedenfalls die Meinung derer mit denen ich mich darüber unterhalte.

Schauen wir einmal in die Praxis: Zum Beispiel in die Fitnessstudios, wo mittlerweile fast sieben Millionen Deutsche trainieren. In den meisten Fitnessstudios wird das Beweglichkeitstraining extrem vernachlässigt (wenn man einmal davon absieht, dass viele Trainierende an den Geräten eher ein Beweglichkeitstraining und Kraftausdauertraining, denn ein Krafttraining betreiben).

In der Krankengymnastik (Physiotherapie) gibt es so viele „Experimente“ und Konzepte, die keine Norm bestimmter Übungen für bestimmte Zielgruppen zulassen. Da spielt es eine große Rolle, ob man einem Physiotherapeuten begegnet der in Manualtherapie, Osteopathie, E-Technik, Bobath, PNF, Maitland oder noch einer anderen Technik ausgebildet wurde.

Und je nachdem erhält man so von fünf vermeintlichen „Experten“ schon einmal fünf verschiedene Antworten. Es können aber durchaus auch sieben verschiedene Antworten sein.

Die Wirkung verschiedener Dehnübungen und Beweglichkeitsübungen ist „allgemein“ unbestritten – trotzdem ist das Stretching wissenschaftlich ungenügend definiert. So streitet man in Forschungs- und Expertenkreisen darüber, wie sinnvoll das Stretching überhaupt ist und wie es sich auf den Körper besonders im Muskel- und Bindegewebe auswirkt.

Und dann stelle ich in der Praxis immer wieder etwas Erstaunliches fest: Obwohl sich fast alle darüber einig sind, dass Beweglichkeit „wichtig“ ist: Es wird kaum praktiziert oder von Trainern gefordert – jedenfalls nicht für diejenigen, die es besonders nötig hätten.

Klar ist jedenfalls, dass Sportler, die es für ihre jeweilige Disziplin brauchen immer schon gemacht haben: Leichtathleten, Schwimmer, Turner, Kampfsportler – um nur wenige zu nennen.

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Drehen wir uns doch mal im Kreis…

In der Praxis gibt es die verschiedensten Anwendungsmöglichkeiten und Empfehlungen, wie das „Grundtraining“ zu gestalten ist. Da hat jeder Physiotherapeut oder Trainer so sein „eigenes Ding“.

In der Erforschung und der Theorie dagegen sieht es gar nicht so viel anders aus. Dort sind die Befunde und Theorien ebenso widersprüchlich und unübersichtlich, vor allem was den eigentlichen Effekt der Dehnmethoden angeht. Gerade wenn es dabei in den Bereich der Krankengymnastik und der Sportmedizin geht, wird daraus ein chaotisches Durcheinander, wobei der Kranke oder der Sportler schnell zum Versuchskaninchen gerät und sich auch mit wirkungslosen Übungen auseinandersetzen muss.

Gründe dafür benennt zum Beispiel der Sportwissenschaftler Dr. Franz Marschall (von der Sport-Uni Giessen): Dr. Marshall kritisiert, dass sowohl bei der Dauer und Häufigkeit der Dehnübungen in der Physiotherapie noch nicht genügend präzisiert wurde, als auch in der Forschung es bisher nicht gelungen ist, Zusammenhänge zwischen mechanischen Dehnbelastungen und neuromuskulären Steuerungen zu erfassen und diese wissenschaftlich zu belegen.

Neben dem Kraft- und Ausdauertraining zeigt jedoch gerade das Beweglichkeitstraining eine großartige Wirkung auf den Körper, die sich, egal in welcher Altersgruppe ausgeübt, positiv äußert.

In einer „Expertenrunde“ konnte ich einmal hören und lesen, wie sich das Bewegungstraining auch wissenschaftlich besser fundieren lässt. Hierbei zeigte sich, dass sich die Ansätze der Expertenansichten hauptsächlich um die Abhängigkeit der Belastungsgrößen, die Kriterien für funktionelle Dehnübungen und die unterschiedlichen Dehneffekte drehten.

Mein Kollege und Physiotherapeut Bernd Herbeck (ehemals im medizinischen Stab der Olympiamannschaft) antwortete auf die Frage, inwieweit Belastungsgrößen in der sportmedizinischen und physiotherapeutischen Praxis genutzt werden, dass in Bezug auf die Intensität der Dehnungsübungen jeweils die Schmerzschwelle als Obergrenze angenommen wird, die, nach seinen Angaben, eher keine negativen Rückkopplungen auslösen sollte.

Ausschlaggebend wäre die Erhaltung oder auch Wiederherstellung der Gelenkfunktion. Neben dem eigentlichen Zweck der Dehnung muss auch auf den Zielort der Dehnung geachtet werden, darunter z. B. die Gefäße, Nerven oder Kapseln, was in vorangegangenen Expertendiskussionen als Ansatz eher vernachlässigt wurde.

Herbeck spricht von einem Zusammenhang zwischen der Ausprägung der Belastungsgrößen, der Technik des Dehnens und der zu verändernden Struktur. Ein erster Schwerpunkt könnte sich hier eingrenzen lassen, wenn die Frage der Intensität für das Beweglichkeitstraining eine ähnliche Bedeutung erhält wie die für das Kraft- und Ausdauertraining.

Anmerkung: Damit kommt Herr Herbeck meinen Erfahrungen und Überzeugungen im Bereich des Beweglichkeitstrainings übrigens sehr nahe.

Der Diplom-Sportlehrer Karl-Peter Knebel (der auch ein Buch zur „Funktionsgymnastik“ veröffentlicht hat), weißt in Bezug auf den Nutzen des Stretchings ferner darauf hin, dass ein kritischer Blick auf die Beanspruchung der Teilstrukturen notwendig ist, hier z. B. Bindegewebe oder Muskulatur, und auf die anatomische und funktionelle Bedingung der Dehnübungen.

Wenn sich die „wissenschaftliche“ Literatur so ansieht, dann kommt man früher oder später auch zu Prof. Jürgen Freiwald. Von Prof. Freiwald liest und hört man zudem, dass

  • Es keinen „wissenschaftlichen“ Beweis gibt, dass Dehnungen notwendig sind.
  • Es auch Studien gibt, die zeigen, dass Jogger häufiger von Verletzungen geplagt wurden, wenn sie vorher Dehnübungen durchgeführt hatten.
  • Das starkes Dehnen die Reaktionszeit der Muskeln verlängert und so der Koordination schadet
  • Dehnen kein Mittel gegen einen Muskelkater ist, sondern ihn sogar eher noch verschlimmern kann

Und dann gibt es da immer noch die Meinung, dass: „weitere Mängel eines für die Forschung ausschlaggebenden Befundes dadurch den Placebo-Effekt entstehen, wobei der Sportler oder Kranke durch seine Erwartung selbst Einfluss auf den Dehneffekt nimmt.

Schön. So etwas kennen wir ja auch aus den verschiedensten Studien zu Medikamenten und anderen medizinischen Heilverfahren. Gerade deswegen finde ich eine Studie aus Rio de Janeiro hochinteressant, die eine Beziehung zwischen Beweglichkeit und dem Sterblichkeitsrisiko herstellt.

Wie verwirrend die Studienlage tatsächlich ist, darauf gehe ich in meinem Beitrag zum Stretching ein.

Kommen wir doch mal zur nächsten Frage:

Welche Dehnmethode ist denn die Beste?

Nur der Übersicht halber, es gibt:

  • passiv-statisches Dehnen (die bekannteste Dehnung)
  • passiv-dynamisches Dehnen (mit Hilfe eines Partners)
  • aktiv-statisches Dehnen
  • aktiv-dynamisches Dehnen (auch: ballistisches Dehnen)
  • postisometrisches Dehnen (auch: Anspannungs-Entspannungs-Dehnen [AED] oder „Contract-Hold-Relax-Stretching [CHRS])
  • bewegt-statisches Dehnen

Hier einige Beispiele:

aktive dehnung beinbeuger waden

Abb.1: Aktive Dehnung der rechten Beinbeuger-Waden-Gruppe. 90° Grad bei gestrecktem (!) Knie sollten es schon sein. Achtung: Bei der aktiven Dehnung wie hier im Bild zu sehen, wird NICHT mit den Händen am Bein gezogen. Die Dehnung wird mittels der Kraft der Hüftbeuger herbeigeführt. Trainer und Therapeuten würden bei dieser Übung zum Beispiel auch auf die Hüftbeugung im linken Bein achten, Innen- oder Aussenrotation des rechten Oberschenkels u.a.m.

passive dehnung beinbeuger waden

Abb.2: Passive Dehnung der Beinbeuger-Waden-Gruppe. Man muss nicht mit der Nase bis an das Knie kommen, aber seinen Fuß sollte man schon erreichen. Auch hier: das Knie sollte gestreckt sein! Diese Übung ist extrem wertvoll bei Beschwerden die sich im Bein hinten, in der Kniekehle aber auch im unteren Rücken abspielen.

Dies ist übrigens auch die Position um das postisometrische Dehnen auszuführen. Hierzu gibt es unterschiedliche Akzentuierungsvarianten: Gegenspannen des Fußes gegen die Hand / Hände (Trizeps surae), Beugung des Unterschenkels (eingelenkige Kniebeuger / ischiocrurale Muskulatur) oder / und Aktivierung der Hüftstrecker. Das Ganze kann so auch zu einem schönen isometrischen Krafttraining werden.

Meine Erfahrungen (und auch die mir vorliegenden Studien) belegen relativ deutlich: die postisometrische Dehnmethode ist die effektivste Methode – jedenfalls was die Besserung der Bewegungsreichweite anbelangt.

Eine Kombination der Methoden ergibt meiner Erfahrung nach allerdings noch bessere Ergebnisse.

Ein Fitnesstrainer (und auch Personal Trainer) hat die oben erwähnten Dehnmethoden nicht nur „drauf“, sondern für jedes Gelenk (von den Fingerendgelenken bis zu den Zehenendgelenken) relevante Übungen anzubieten, um die Beweglichkeit zu erhalten, zu verbessern und auch die Kraftkurve in den jeweiligen Gelenkwinkeln zu trainieren. Das Ganze abgestimmt auf die vorhandenen Beschwerden und auch die Sportart des Übenden.

Braucht man überhaupt Dehnungen oder reicht eine exzentrische Arbeitsweise der Muskulatur?

Praktisch: reicht es, wenn ich mich den ganzen Tag bücken muss – oder brauche ich noch eine spezielle Dehnung für den unteren Rücken?

Hier geht es in der Fachsprache um „submaximale und supramaximale Exzentrik“. Während das klassische Stretching den Muskeltonus und die Sensibilität der Muskelspindeln verringert und darum durchaus eine Leistungsminderung bewirken kann, zeigt sich bei einer exzentrisch-konzentrischen Arbeitsweise eine Abhängigkeit der entwickelten Kraft von der Verweildauer. Die Muskelkräfte sind bei einer Zeitverzögerung geringer als bei direkter Aufeinanderfolge von Konzentrik und Exzentrik.

Sprich: statisches Dehnen reduziert den Muskeltonus eher, supramaximale Exzentrik erhöht den Tonus eher (was vor sportlichen Leistungen ja eher erwünscht ist).

Ob nun die Elastizität der Muskeln und des Bindegewebes (wobei hier das Vermögen gemeint ist, nach der Dehnübung wieder in die Ausgangslage zurückzufinden), und die Plastizität, (wobei man hier wiederum die Eigenschaft eines Muskels meint, der durch äußere Einwirkung verformt werden kann), ob also nun beide eine tatsächliche Veränderung der Bewegungsreichweite beeinflussen, kann, nach Ansicht von Prof. Klaus Wiemann, eher verneint werden. Ein derartiges Ergebnis zeigt sich dann eher in kleineren Effekten, wenn z. B. die Muskelruhelänge nicht wieder eingenommen werden kann, was vorkommt, wenn bei anspruchsvollen Dehnübungen die Elastizitätsgrenze überschritten wird und es zu strukturellen Veränderungen kommt.

Und was ist mit Yoga und so?

Bisher habe ich das Thema Stretching im wesentlichen sportwissenschaftlich betrachtet. In fast jeder Art des Trainings lässt sich die ein oder andere „Beweglichkeitskomponente“ oder Stretching finden.

Es gibt aber auch Systeme und Kurse, die den Aspekt der Beweglichkeit als Schwerpunkt haben – zumindest aus sportwissenschaftlicher und sportmedizinischer Sicht:

Diese drei sind natürlich Klassiker.

Darüber hinaus haben sich im Kursbereich „Trends“ entwickelt, die einen hohen Anteil Beweglichkeitstraining beinhalten (zum Beispiel Antara oder Pilates).

So jetzt habe ich erst einmal genug zu diesem Thema geschrieben. Das Thema wird von mir weiter bearbeitet und erweitert. Jedenfalls ist es Zeit für ein…

Vorläufiges Fazit

1. Die Betrachtungen und theoretischen Denkmodelle beziehen sich fast alle nur auf die Muskulatur. Eine Struktur findet nur wenig Beachtung: die Faszien. In meinem Beitrag „Faszientraining – Bedeutung in der Schmerztherapie und im Training„, gehe ich genauer darauf ein.

2. Der Personenkreis der am meisten vom Beweglichkeitstraining profitieren würde macht es nicht: nämlich sportlich Inaktive. Die Einschränkungen in der Beweglichkeit sind erschreckend.

3. Untersuchungen bezüglich Schmerzen und Beweglichkeitseinschränkungen: fast Fehlanzeige.

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